Alle leidenschaftlichen Leser*innen haben es wohl schon erlebt, dieses Gefühl, ganz einzutauchen in ein Buch, die Abenteuer an der Seite der Hauptcharaktere zu bestreiten, mit ihnen zu lachen, zu weinen, zu lieben und zu bangen. Oft fühlt es sich so an, als würde man in der Geschichte stecken und das Gelesen selbst erleben, und wenn man sich die aktuelle Forschung der Neuropsychologie zum Thema Gehirnaktivitäten beim Lesen ansieht, beginnt man auch zu verstehen, warum.
Tatsächlich haben internationale Forscher, allen voran Raymond Mar und Keith Oatley, herausgefunden, dass die Prozesse, die beim Lesen im Gehirn ablaufen, quasi identisch sind mit denen, die beim echten Erleben gleicher Situationen stattfinden. Dies stimmt für alle Ebenen des Erlebens, also für sinnliche Wahrnehmungen wie riechen und schmecken, motorische Erlebnisse wie Rennen und Kämpfen und insbesondere für emotionale Momente, in denen wir Trauer, Freude oder Angst verspüren.
Was beim Lesen im Gehirn passiert
Die Voraussetzung dafür, dass diese intensive Form des Erlebens stattfindet, ist, dass sich die Lesenden mit den Protagonist*innen identifizieren können. Dies ist der Fall, wenn sie eigene Eigenschaften und Verhaltensweisen bei anderen wiederfinden, sich also in ihnen wiedererkennen.
Dass Emotionen bei der Identifikation eine besonders große Rolle spielen erklärt sich unter anderem dadurch, dass es bestimmte Basisemotionen gibt, die alle Menschen aus allen Kulturen gemeinsam haben und in der Mimik und Gestik eines Gegenübers erkennen können. Anders als zum Beispiel Familienformen, Traditionen und Lebensentwürfe sind Emotionen also universal und werden von allen Menschen auf der Welt erkannt.
Gleichzeitig findet eine Identifikation jedoch nie zu 100% statt, da alle Menschen, real oder fiktiv, unterschiedlich sind und ihre eigenen Erfahrungen und Geschichten mitbringen. Man kann also davon ausgehen, dass alle Leser*innen sich ein Stück weit in alle Protagonist*innen hinein versetzen können, da sie ihre grundsätzlichen emotionalen Erlebnisse nachvollziehen können, jedoch auch immer Aspekte finden werden, mit denen sie sich nicht identifizieren können.

Was Lesen mit uns macht
Was die mehr oder weniger intensive Identifikation für mögliche Folgen hat, haben Mar und Oatley ebenfalls erforscht. Zum Einen haben sie herausgefunden, dass wir Menschen durchs Lesen in der Lage sind, dazuzulernen, und zwar nicht nur auf faktischer Ebene, sondern eben auch auf emotionaler Ebene. So können wir beim Lesen lernen, Konfliktsituationen besser zu navigieren, intensivere Gespräche zu führen und insgesamt bessere Beziehungen zu führen.
Gleichzeitig reduziert eine Identifikation mit Charakteren, die anders sind als wir, Vorurteile, führt zu mehr Verständnis und Toleranz. Dies zeigen mehrere Studien, in denen die Lesenden Texte mit Charakteren anderer ethnischer Gruppen über einen längeren Zeitraum gelesen haben und danach zu ihrer Einstellung diesen Gruppen gegenüber befragt wurden. Der Vergleich mit einer Kontrollgruppe ohne solche Charaktere in ihrem Lesestoff, zeigte eine deutlich positivere Einstellung gegenüber der entsprechenden Gruppe. Man kann also sagen, dass ein Lesen über und damit eine Identifikation mit Menschen, die anders sind als wir, unsere Wahrnehmung dieser Menschen verändert.
Was hat Lesen mit dir gemacht?
Im Rahmen meiner Masterarbeit habe ich mit dem Thema Identifikation beim Lesen und beim Übersetzen beschäftigt und es fasziniert mich weiterhin, dass mein eigenes Gefühl beim Lesen wissenschaftlich erklärbar und bestätigt ist. Was für Erlebnisse habt ihr beim Lesen gemacht? Habt ihr das Gefühl, eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Charakteren hat eure Meinung über bestimmte Gruppen geändert? Mit welchen Charakteren könnt ihr euch besonders gut identifizieren? Welche zwischenmenschlichen Erfahrungen denkt ihr, wurden bei euch durch das Lesen geschult?
Wie genau Identifikation beim Lesen passiert, was dafür wichtig ist und warum dieses Thema auch beim Übersetzen eine Rolle spielt, werden wir uns in den folgenden Artikeln dieser Reihe angucken.
Bis dahin, macht es gut und vielen Dank fürs Lesen!
Eure Johanna